Rabbinerin Natalia Verzhbovska
Natalia Verzhbovska ist die erste Rabbinerin in NRW
Natalia Verzhbovska trifft pünktlich auf die Minute ein. Sie ist mit dem Zug gekommen. Die liberale jüdische Gemeinde „Perusch“ („Deutung“, „Erläuterung“) in Oberhausen liegt fünf Fußminuten vom Bahnhof entfernt im ersten Stock einer unspektakulären Häuserzeile mit Büros, Anwaltspraxen, Geschäften und Wohnungen. Davor breitet sich der Friedensplatz aus, eine großzügige historische Parkanlage mit Beeten, Wasserfläche und Brunnen. Auf der gegenüberliegenden Seite ist das städtische Polizeipräsidium untergebracht.
Verzhbovska eilt zielgerichtet in den Schulungsraum der Synagoge, legt Tasche und Jacke ab und setzt sich eine burgunderfarbene Kippa auf – passend zum Pullover. „Bei den progressiven Juden tragen auch die Frauen Kippa und Tallit (Gebetsschal). Wir sind gleichberechtigt“, sagt sie. „Wir Juden stehen mit bedecktem Kopf vor dem Ewigen – zur Ehre Gottes.“
Eine von sechs Rabbinerinnen in Deutschland
Verzhbovska ist eine von sechs Rabbinerinnen in Deutschland. Vor sechs Jahren kam die erste der Frauen nach Berlin. Sie selbst ist Ende August 2015 ordiniert worden. Seitdem steht sie den progressiven Gemeinden in Köln, Unna und Oberhausen vor, denen 500 Mitglieder angehören. In Oberhausen und Unna sind 90 Prozent von ihnen russischsprachig. „In Köln ist die Gemeinde gemischter“, sagt sie. Die Menschen kämen aus Deutschland, Frankreich, England, Spanien und den einstigen Ostblockländern. „Wir beten auf Deutsch, Russisch und Hebräisch.“
Zum Zentralrat der Juden in Deutschland gehören die liberalen Gemeinden nicht. Sie haben eigenständige Strukturen, wohl auch, weil sich mancher konservative oder orthodoxe Verbandsvertreter schwer tun würde mit den modernen Glaubensbrüdern und -schwestern sowie der Frauenordination. Und umgekehrt die progressiven Juden mit den traditionellen Vorgaben der anderen.
Minderheit im Judentum
Doch Rabbinerin Verzhbovska ist eine Frau des Ausgleichs. Es ist ihr wichtig, die Idee des liberalen Judentums im öffentlichen Bewusstsein bekannter zu machen. Gleichzeitig schätzt sie „die Vielfalt der Strömungen im Judentum“. Für sie sind sie „Ausdruck einer lebendigen Religion“.
Sie weiß auch, dass die Liberalen unter den Juden in Deutschland eine Minderheit in der Minderheit bilden. „2014 lebten hierzulande rund 250 000 Juden“, sagt sie. Rund 110 000 davon waren Mitglieder in jüdischen Gemeinden. Von diesen gibt es in Deutschland 108, nur 24 davon zählen zum progressiven Judentum.
Liberales Judentum
Es gibt orthodoxe und nicht-orthodoxe Strömungen im Judentum. Zu den nicht-orthodoxen gehören das liberale, das konservative Judentum und der Rekonstruktionismus. Daneben steht der Chassidismus/Chabad. Das liberale Judentum hat sich im 19. Jahrhundert entwickelt – als „Antwort auf die Moderne“, sagt Verzhbovska. 1808 hat Josef Wolf in Dessau die ersten Predigten in Deutsch (statt Hebräisch) verfasst. Die „Pittsburger Plattform“ erklärte 1885: Das Judentum bringt den Menschen die Wahrheit und Gerechtigkeit gemeinsam mit dem Christentum und Islam näher.
Liberale Juden sehen die Offenbarung als „fortschreitende Beziehung Gottes zu seinem Volk“, während sie für die Orthodoxen einmalig in der Geschichte ist. „Gott offenbart sich an jedem Tag unseres Lebens. Wir stehen in einer lebendigen Beziehung zum Ewigen“, sagt Verzhbovska. Jüdische Gesetze werden nicht nur bewahrt, sie können sich entwickeln. Gemischtreligiöse Ehen sind willkommen. Die Aufnahme ins Judentum steht jedem offen. Konversion ist ein Lern- und Entscheidungsprozess. Ein Gericht (Beit Din) entscheidet über die Aufnahme. Rituale und Gesetze wie Kaschrut (Speisevorschriften), Bar/Beit Mizwa (Religionsmündigkeit von Mädchen und Jungen) und Chuppa (Hochzeit) werden beachtet. Mann und Frau sind gleichberechtigt, beten gemeinsam, nicht getrennt. Frauen ist das Studium des jüdischen Gesetzes (Halacha) erlaubt.
„In den USA sieht das ganz anders aus. Dort gibt es in mancher progressiven Gemeinde 5000 Mitglieder und sechs Rabbiner und Rabbinerinnen“, erklärt sie. Dennoch hat sich die gebürtige Ukrainerin in ihrem langen Glaubens- und Entwicklungsweg nicht für die USA entschieden, sondern für Deutschland. „Für die Heimat des liberalen Judentums“, sagt sie. „Hier hat es sich im 19. Jahrhundert entwickelt, bis der Holocaust alles zerstört hat. Die ersten progressiv-theologischen Texte sind in Deutsch verfasst worden. Ich wollte in dem Land Rabbinerin werden, in dem die Wiege des liberalen Judentums steht.“
„Die zerbrochene Zeit der Tradition.“
Als Rabbinerin ist sie in Deutschland eine Besonderheit. „In den USA gibt es inzwischen mehr Frauen als Männer“, erläutert sie und fügt schmunzelnd an: „Es sieht so aus, als werde dort das liberale Rabbinertum zu einem weiblichen Beruf.“ In Deutschland gebe es „die zerbrochene Zeit der Tradition. Wir sind dabei diese Tradition gerade wieder aufzubauen.“
Die rabbinischen Aufgaben von Männern und Frauen im progressiven Judentum sind gleich, erklärt sie. Seelsorge, Gottesdienste, Familien- und persönliche Beratung. Am Schabbat und an Feiertagen wie Jom Kippur (Versöhnungstag) oder Rosch ha-Schana (Neujahrsfest) steht sie dem Gottesdienst vor. Sie initiiert und leitet auch Lernprogramme für Kinder und Erwachsene. Ihre Aufgabe sieht sie darin, „Menschen in ihrem Lebenszyklus zu begleiten: von der Geburt über die Hochzeit bis zu Tod und Beerdigung“.
Teil der deutschen Gesellschaft
Die Gemeinde in Köln bestehe seit 20 Jahren und habe viel Erfahrung, die Brücke zwischen der ethnischen und religiösen Angehörigkeit zum Judentum zu schlagen. Jude könne man im liberalen Judentum aus Entscheidung werden und nicht nur, weil man in die Gemeinschaft hineingeboren wurde, erklärt sie.
Die Gemeinden in Oberhausen und Unna bestehen seit zehn Jahren. Ihre Mitglieder stammen mehrheitlich aus den Ländern der ehemaligen UdSSR und sind Anfang der Neunzigerjahre nach Deutschland gekommen. „In der Sowjetunion haben sie sich die Philosophie des Judentums bewahrt und die Feste in ihren Familien gefeiert.“
Es sei aber auch wichtig, die religiösen Texte zu kennen, die Gebete, Gesetze und Riten. „Kinder brauchen eine Umgebung, in der sie ihre jüdische Identität lernen können. Gleichzeitig wollen wir integraler Teil der deutschen Gesellschaft sein.“ Von Anfang an hält die 48-Jährige auch Kontakt zu christlichen und islamischen Gemeinden. Sie hält Vorträge zu Themen wie „Versöhnung“ oder „Die Rolle der Frau im Judentum“ und nimmt an gemeinsamen Friedensgebeten teil.